Was geht ab? #EurobikeShow

Über den Titel des Beitrags musste ich diesmal tatsächlich etwas nachdenken, aber er trifft annähernd, worum es mir beim Besuch der diesjährigen Eurobike ging: Mal wieder etwas über den eigenen Interessen-Schwerpunkt hinaussehen und aufnehmen, was die große Fahrradwelt abseits der Freaks und Spezialisten da draußen treibt…

Vom Sportgerät zurück zum Verkehrsmittel

Wer auf Radwegen Strecke machen will, so wie ich vergangene Woche bei einer Nord-Süd-Passage Bayerns, der nimmt von gesellschaftlichen Veränderungen in Hinsicht auf das Fahrrad nur wenig wahr.

Man fährt weiterhin auf Radwegen, die jedem Flurbereinigungsweg Vorfahrt gewähren, am Ortsschild abrupt enden oder einfach auf der längstmöglichen Distanz von A nach B führen. Mir fiel es mitunter schwer, weiter an eine Blutdruck-regulierende Wirkung des Radfahrens zu glauben.

Ganz anders das Bild, das sich mir beim jährlichen Branchentreff in Friedrichshafen zeigte. Das Fahrrad steht in den Startlöchern, auch im Alltag wieder den Stellenwert einzunehmen, den es vor vor der Ära des Automobils schon einmal hatte: als ernstzunehmendes Verkehrmittel.

Ortlieb Bike-Packing Gravel
Weiterhin im Trend: Micro-Adventure mit dem Gravel-Bike

Der Raum, den Alltagslösungen wie z.B. der Lastentransport (Cargo-Bikes), der Transfer des Rades in öffentlichen Verkehrsmitteln (Falträder) oder auch nützliche Accessoires für den täglichen Gebrauch einnahmen, war auffallend groß. Und nicht weniger präsent: die Innovationsfreude in diesem Bereich.

An vielen Ständen, ob von Verbänden, Verlegern oder Herstellern, war Aufbruchstimmung zu spüren. Das Fahrrad braucht mehr Raum, und es hatte lange nicht mehr so gute Chancen, diesen auch zu bekommen.

Ohne Strom geht nichts mehr

Woran ich mich in den letzten Jahren schon nicht so leicht gewöhnen konnte, war auf der Eurobike wieder unübersehbar: ohne Strom geht auch in Sachen Fahrrad offenbar nichts mehr. Die große Mehrheit der präsentierten Neuheiten hatte zumindest eine elektronische Komponente.

Und sieht man sich beispielhaft die auffallendste davon an, den Elektro-Antrieb, dann scheinen allenfalls noch Kinderräder darauf verzichten zu können. Fragt sich nur, wie lange noch.

Woom Bikes Fahrräder für Kinder
Trotzen dem allgemeinen Trend zum E-Antrieb noch:
Kinderräder (hier von woom), die endlich auch leichter werden.

Auch wer wirklich sportlich mit den Rad unterwegs ist und den Elektro-Motor schon ehrenhalber der Abteilung Alterversorgung zurechnet, kann auf Elektronik am Rad kaum noch verzichten, zumindest wenn er seine Gangwechsel auf aktuellem Ausstattungs-Niveau vornimmt.

Richtig unverzichtbar wird die Elektronik auch für Sportler spätestens im Winter: ein Rollentraining ist ohne passendes Gerät mit direkter Verbindung zu einer der wirklich coolen virtuellen-Trainingswelten wohl nicht mehr lange vorstellbar. Da nehme ich mich selbst gar nicht aus. Was haben wir früher im Winter gelitten…

Heute besteht wahrscheinlich eher die Gefahr, dass man im Frühjahr vergisst, von Zwift & Co. auch wirklich wieder auf die reale Straße zu wechseln. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Elektro-Antrieb dominiert

Der Elektro-Antrieb hat den Fahrradmarkt schlagartig erweitert. Und das kann man grundsätzlich gar nicht schlecht finden. Die Vorteile sind nicht zu übersehen.

Seit der Marktreife des E-Bikes (Pedelecs) fahren wieder mehr Menschen Rad. Auch die Alltagstauglichkeit des Fahrrades als Verkehrsmittel hat sich für viele Menschen drastisch verbessert. Ein positiver Nebeneffekt ist, dass dadurch mehr Geld in die Branche fließt und auch das führt dazu, dass ihr Einfluss steigt.

E-Gravel-Bike Bianchi
Auch so traditionelle Rennrad-Hersteller wie Bianchi reiten auf der E-Bike-Welle

Dass mittlerweile sogar schon mehr E-Mountainbikes als klassische Vertreter der Gattung verkauft werden, kann ich mir noch erklären. Das heutige Mountainbike macht technisch auch abgelegene und extrem schwer zugängliche Gegenden erreichbar. Und das ist auch für weniger sportliche Fahrer einfach attraktiv.

Dabei fährt es sich äußerst komfortabel und sieht trotzdem sportlich aus. Was will der gestresste Mensch mit wenig Zeit und zu viel Bauch mehr?

Ob man das gut finden soll, darüber wird nicht nur beim Alpenverein gestritten, tiefer will ich hier gar nicht einsteigen. Mich erstaunt vielmehr, dass jetzt sogar Rennräder einen Elekro-Antrieb bekommen. Und das kann ich nicht mehr so einfach nachvollziehen.

Paradoxon E-Racing-Bike

Vom Rennrad geht seit jeher eine besondere Faszination für Fahrrad-Menschen aus, auch wenn sie selbst gar keines fahren.

Das Rennrad steht unter den Fahrrädern für die Beschränkung auf das wirklich Notwendige. Sein Reiz liegt darin, dass es puristisch, leicht und effizient ist. Seine Technik liegt völlig offen und ist im Grunde auf den ersten Blick zu verstehen.

Und es steht nach wie vor für die schnellste Möglichkeit mit reiner Muskelkraft von A nach B zu kommen.

Das Rennrad ist ein Sportgerät.

Centurion Professional Rennrad
Auf das nötigste reduziert: ein Centurion-Rennrad aus dem Jahr 1980

In seiner Schlichtheit und Eleganz begeistert das Rennrad seit jeher auch Designer anderer Branchen und hat sich längst zu einem Lifestyle-Produkt entwickelt.

Das Rennrad ist längst auch ein Kunstobjekt.

Doch weder das eine noch das andere trifft auf die mit Elektro-Antrieb ausgestatteten Rennräder zu, die ich im Rahmen der Eurobike – einigermaßen fassungslos – bei fast jedem Rennrad-Hersteller ansehen durfte.

Centurion Rennrad mit E-Antrieb 2019
Eurobike 2019: Ein aktuelles Centurion Rennrad mit Elektro-Antrieb

Welchen Sinn macht ein reines Sportgerät, wenn es die Ausübung des Sports im Grunde konterkariert?

Im Gegensatz zum E-MTB ist ein E-Rennrad nämlich nicht einmal besonders gut geeignet, auf bequemen Wege dorthin zu kommen, wo man Erholung sucht.

Eurobike 2019: Olmo E-Racing-Bike
Es geht noch unansehnlicher: Für mich weder Sportgerät noch Eye-Catcher.

Was ist das Kaufmotiv für ein E-Rennrad?

Ich frage mich seit gestern ernsthaft wie lange man Spaß am Rennradfahren haben wird, wenn man nach einer Trainingsrunde die damit üblicherweise verbundene Zufriedenheit nicht spürt? Ginge es einem nur ums schnelle Fahren, dann wäre man auf einem (E-)Motorrad doch viel besser aufgehoben?

Wer zwängt sich in ein enges Rennradler-Outfit, wenn er gar keinen Sport machen will? Wer will Zusatzgewicht und -widerstand im Flachen überwinden, damit er sich nach einem Berg nicht einmal darüber freuen kann, ihn mit eigener Kraft bezwungen zu haben?

Und als Einstiegsdroge, bis die Form für ein richtiges Rennrad ausreicht, taugt ein E-Rennrad schon aufgrund des hohen Preises nicht. Ich bin ehrlich gespannt, wie sich das weiter entwickeln wird.

Lieber Giro del Gelato als E-Rennrad
Lieber rolle ich meinem Rennrad nur noch zur Eisdiele als…

Bisher kenne ich nur einen Rennradler mit elektrisch unterstützem Rennrad persönlich. Der ist 76 Jahre alt und steigt trotzdem viel lieber auf seine Rennräder ohne Hilfsmotor. Der Grund: es fühlt sich einfach nicht gut an, jemanden mit elektrischer Unterstützung zu überholen.

Was bleibt?

Die Branche befindet sich in einer extrem spannenden Phase. Dieser Eindruck hat sich für mich auf der Eurobike noch verstärkt. Das Fahrrad kann ein bedeutender Baustein bei der Lösung ökologischer und gesellschaftlicher Herausforderungen sein. Die versammelte Fahrradwelt scheint sich dem bewusst zu sein und treibt es voran. Das kann nur gut sein.

Dass es auch beim Fahrrad fragwürdige Entwicklungen gibt, unter denen gerade die eher klassisch orientierten Vertreter der Branche leiden könnten, das ist schade, aber in unserer kommerziell getriebenen Welt wohl unvermeidbar.

Gute Nachricht zum Schluß: Das fahrstil-Magazin wird wieder neu aufgelegt.

Eine schöne Überraschung erlebte ich zum Abschluss meiner Runde in den Messehallen der Eurobike: Das fahrstil-Magazin soll im kommenden Jahr wiederbelebt werden. Das freut mich, denn ich lese gerne mehr als die üblichen gut aufbereiteten Presse-Mitteilungen mit Hochglanz-Fotos. Man konnte es auch schon wieder abonnieren. Und ich habe nicht lange gezögert!

6 Antworten auf „Was geht ab? #EurobikeShow“

  1. In der Tat war die Messe aus Sicht von Rennradfahrern eine herbe Enttäuschung. Kein wirklich namhafter Hersteller (ausser Biancchi) war da, überall nur E-Bikes, Lastenräder und die Kombination aus beidem. Gut ein paar Ausrüster für Bikepacking waren da, aber selbst da fehlte Apidura. Sogar der Stand von Ortlieb war auf der Ispo besser bestückt. Radklamotte komplett Fehlanzeige. Wären da nicht ein paar kleine Firmen mit besonderen Gimmicks, die man sonst nie finden würde, wäre es ein kompletter Reinfall gewesen. Da ich auf der Durchreise zur WM in Zofingen war, konnte ich das nutzen. Ansonsten hätte ich mich wohl nur geärgert.

    1. Hi Tom,

      ich fand die Messe für einen Blick auf die Marktentwicklung schon interessant. Gerade auch für den Blick über den eigenen Tellerrand. Die Räder, Rahmen und Teile, die mich wirklich interessieren, hatte ich dort auch nicht erwartet. Ich war in einem halben Tag durch und hatte das Gefühl, dabei genug gesehen zu haben (waren übrigens schon ein paar renommierte Rennrad-Hersteller mehr da 😉

      Beste Grüße
      Sebastian

  2. Und mit deiner Einschätzung zum e-Rennrad bin ich voll bei dir. Dennoch: ein schnelles, elektrisch unterstütztes Lastenrad, wie bspw das Bukkit hätte ich schon längst, hätte ich einen geeigneten Stellplatz dafür. Zum größeren Einkauf mit Wasserkisten und der Vierteljahresration Nudeln wäre das perfekt.

    1. Ja, da macht E-Antrieb auch Sinn, wie überhaupt immer, wo wir das Fahrrad primär als Verkehrsmittel nutzen. Ein Rennrad hingegen ist ein Sportgerät, vielleicht zusätzlich noch ein Statussymbol/Schmuckstück – in beiden Fällen ein Hilfsmotor also irgendwie paradox

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