November. Auf einem Parkplatz im Münchner Süden. Ein typisches Kleinanzeigen-Treffen. Mein Gegenüber ist mir unbekannt, aber nett und vertrauenswürdig, von dem kann man schon ein Rad kaufen. Ein erster Blick auf das noch im Kofferraum des VW Touran liegende Rennrad: es scheint wirklich ein frühes Gios Torino Record zu sein, eines aus der Team Brooklyn-Ära von 1973-77, genaueres gilt es herauszufinden…
Die Idee zum Projekt 1974
Ich kann nicht mehr sagen, wann und wie sich mir der Floh ins Ohr setzte, dass ich ein Rennrad aus meinem Geburtsjahr bräuchte. Aber der Floh war hartnäckig und im Herbst des vergangenen Jahres manifestierte er sich endlich als fixe Idee. Das Projekt 1974, wie ich es für mich nenne, war nicht nur geboren, es nahm gleich richtig Fahrt auf.
Viel schneller als gedacht, klopfte mit einem frühen Gios Torino Record der erste Kandidat an die Tür.
Nichts wirklich neues…
Der Wunsch nach einem Rennrad aus dem eigenen Geburtsjahr ist natürlich nichts besonders Kreatives – und schon gar nichts Neues. Das macht die Sache aber im Grunde sogar interessanter, denn man kann seine Erfahrungen dazu unter Gleichgesinnten gut austauschen.
Je älter man ist, desto schwieriger gestaltet sich die Suche, was irgendwie auf der Hand liegt. Ein gut erhaltenes Rennrad aus dem Jahr 1974 zu finden, ist aber eine lösbare Aufgabe. Zu einfach möchte ich es mir aber auch nicht machen, denn mein Kontingent an Rennrädern ist längst erschöpft. Nur die wirklich schönen und passenden behalte ich auf Dauer.
Ein Rennrad, das mir beim Fahren und während der Kaffee-Pausen kein Lächeln aufs Gesicht zaubert, brauche ich nicht.
Kriterien für meinen 74er
Damit ich meinen Fahrrad-Fuhrpark für das Projekt 1974 noch einmal erweitere, sollte es zumindest folgende Kriterien erfüllen:
- möglichst verlässlich auf das Jahr 1974 datierbar sein (oft schwer)
- passende Rahmengröße und Geometrie aufweisen (RH: 53-55 c-t, OR ~54 c-c)
- angenehme Fahreigenschaften haben (merkt man erst, wenn man es hat)
- und es muss mir unabhängig vom Jahrgang einfach gefallen.
Dazu kommen natürlich beliebig viele Begeisterungsfaktoren, wie beispielsweise die Historie, die Herkunft und der Zustand des Rades.
Nachdem ich die Idee zum Projekt 1974 im RRN-Forum erstmals geteilt hatte, dauerte es auch gar nicht lange und es kamen die ersten – zugegeben reizvollen – Ideen, die bei für eine Realisierung nicht nur meine Geduld und meinen Geldbeutel strapazieren würden, vor allem aber den Pareto-Typen in mir überfordern. Beispiele gefällig?
Der heilige Gral
Eddy Merckx hatte 1974 sein wahrscheinlich bestes Jahr. Auf einem orange-farbenen Eddy Merckx gelabelten Rahmen von Ugo De Rosa fuhr er von Sieg zu Sieg. Nun sind die bei Kessels in Belgien oder Colnago gebauten Molteni-Merckx-Räder schon gefragt und selten, aber eines von De Rosa… eine schöne Idee!
Einer aus zweihundert
Und auch die Raleigh Specialist Bicycle Development Unit in Ilkeston, wo die TI Raleigh Rahmen produziert wurden, öffnete 1974 erstmals ihre Pforten. Eines dieser ersten vielleicht zweihundert (?) Exemplare aus dem Prämierenjahr wäre natürlich auch recht nett. Wieviele wurden wohl in meiner Größe gebaut?
Und so ähnlich gingen die vielen gut gemeinten und auch tatsächlich willkommenen Vorschläge weiter…
Gios Torino
Der Name Gios fiel dabei zunächst überhaupt nicht, was daran liegen könnte, dass die Rennräder von Gios aus dieser Zeit nicht wirklich zweifelsfrei datierbar sind. Es gab kein Seriennummern-System. Von 1973 bis 1977 (Team Brooklyn Ära) blieb auch das Dekor der Gios-Rennräder immer gleich (Chromgabel, blaue Lackierung mit weißen Decals).
Dennoch unterschieden sich die frühen von den späteren Modellen zumindest in kleineren Rahmendetails, wie z.B. der Strebenanlegung, den Ausfallenden oder dem hinteren Bremssteg, wenn auch nicht durchgängig.
Mehr Marke als Hersteller
Gios Torino war immer mehr eine Marke als ein Hersteller oder gar eine eigenständige Manufaktur. Viele Gios Torino Rennräder wurden gerade in den 60er und frühen 70er Jahren im Auftrag bei verschiedenen Spezialisten Norditaliens gefertigt. Für die frühen Rahmen der Profiteams werden als Erbauer immer wieder die Namen Gillardi und auch Pela (vor 73) genannt.
Erst ab Ende 1974 kamen mit dem wachsenden kommerziellen Erfolg der Marke auch die höherwertigen Gios Torino Record und später Super Record Modelle aus den eigenen Hallen, wo sie wohl mehrheitlich von den Brüdern Giame gelötet wurden (auch Fiorelli wird manchmal genannt). Ab diesem Zeitpunkt vereinheitlichten sich die Rahmendetails und die verbauten Komponenten – wie z.B. die Sattelstützen – wurden zum Teil mit “Gt” für Gios Torino pantografiert.
Der erste Kandidat für das Projekt 1974
Zurück auf einem Parkplatz im Münchner Süden.
Wir holen das Gios aus dem Kofferraum, setzen die Laufräder ein und dann kommt der übliche Schnell-Check: Die Laufräder stehen schön in der Flucht, unter dem Dreck der Jahrzehnte finde ich nirgends ernsthaften Rost und die Ausstattung weicht nur bei den Bremsen vom Original ab. Toll.
Die Rahmendetails stimmen mit meinen Recherchen überein und das großzügig ausgefräste “Gt” im Tretlagergehäuse beseitigt den letzten Zweifel bzgl. der Herkunft des Rahmens.
Doch könnte es auch tatsächlich ein 74er sein? Die verbauten Campagnolo-Komponenten unterstützen meine These: Das Schaltwerk ist Pat. 74 gestempelt, die Kurbeln 73 (Rautenstempel mit 3 darin) und die Naben sind auch aus 74 (Prägung auf der Innenseite der Konusmuttern). Kein Beweis, aber passende Indizien.
Das werde ich kaufen, da bin ich mir schnell sicher. Während mir die letzten Gedanken über ein passendes Gebot durch den Kopf gehen, läuft ganz automatisch der finale Check. Steuersatz ohne Spiel, Vorbau und Sattelstütze lassen sich frei bewegen, alles super. Ein letzter Kontrollblick auf den Übergang zwischen Steuer-, Ober- und Unterrohr, die klassische Stauchungszone…
Katharsis
Kann das wahr sein? Kein Zweifel, der Rahmen hatte einen unsanften Frontkontakt. Die kleine Ausbuchtung jeweils an Ober- und Unterrohr ist unmißverständlich. Man kann sie am verstaubten Rad zunächst eher fühlen als sehen.
Der Verkäufer ist nicht weniger schockiert als ich und tut mir auch fast so leid wie ich mir selbst. So ein Mist, aber die Stelle war erst wirklich kaum sichtbar. Da wäre ich jetzt fast reingerasselt…
Wir einigen uns dennoch. Ich bezahle ihm nur den Gegenwert der gut erhaltenen Komponenten und nehme dafür das komplette Rad mit. Damit ist er das Problem los und ich habe was Schönes zum Basteln. Das Projekt 1974 fängt für mich ganz anders an als erwartet… mit einer echten Baustelle und offenem Ende.
Wiederbelebung eines Gios Torino Record (~1974)
Nachdem ich das Gios zerlegt und gereinigt habe, beschließe ich zunächst die kleine Stauchung zu ignorieren, da sie kaum Auswirkungen auf das Fahrverhalten des Rades haben dürfte. Doch je mehr ich mich mit dem Rad befasse und je öfter ich mir Stauchung ansehe, desto mehr stört sie mich.
Über die Weihnachtsfeiertage habe ich Zeit und nehme mir mit Hilfe eines geliehenen Self-made-tools die Stauchung vor. Dieser sog. Headtube-Straightener ist so konstruiert, dass seine Kraft am Steuerrohr genau entgegen des stauchenden Ereignisses wirkt und die Stauchung wie mit einem Wagenheber herausgezogen wird.
Ein kleines Bastel-Abenteuer
Die einzige Schwierigkeit bei der Anwendung liegt darin, das Werkzeug so am Tretlager anzusetzen, dass es nicht abrutschen kann. Außerdem sollte man nur gerade soweit überstrecken, dass der Rahmen keinen Schaden an anderer Stelle dadurch nimmt.
Die Überwindung der Elastizität
Da zunächst die Elastizität des Rahmens und der Rohre überwunden werden muss, bevor sich der Stauchungsbereich glättet, erforderte das schon eine gewisse Gelassenheit meinerseits. Deswegen hatte ich auch leider vergessen, während des Prozesses Fotos zu machen.
Letztlich ging die Prozedur aber leichter von der Hand als zwischendrin befürchtet. Nach ein paar Umdrehungen der spreizenden Schraube ohne merkbaren Effekt, glättete sich der Stauchungsbereich dann plötzlich sicht- und spürbar (ich hatte immer eine Hand auf der Stauchung), um nur wenig später wieder zu stagnieren. Gleichzeitig begann sich nun das Oberrohr nun umso deutlicher durchzubiegen. Irgendwie war einfach klar, dass nun der Zeitpunkt des Abbruchs gekommen war.
Operation geglückt
Das Ergebnis überzeugt mich immer noch, die Stauchung ist im Grunde nur noch am Lack zu erkennen, der an der betroffenen Stelle immernoch leicht gewölbt und etwas verschwommen aussieht. Die Ausbuchtung ist aber nahezu komplett zurückgegangen und vor allem das vorher im vorderen Bereich ganz leicht nach unten geneigte Oberrohr ist jetzt wieder komplett gerade. Eine schöne praktische Erfahrung, die sich für mich wirklich gelohnt hat.
Die Stabilität an der gestauchten Stelle wird natürlich nicht mehr auf dem alten Niveau liegen, was mir bei der kleinen Rahmengröße und weniger als 70 Kg Fahrergewicht jedoch eher wenig Sorgen bereitet. Stahl ist einfach ein dankbares Material für derartige Reparaturen.
Gios Torino Record (Neuaufbau)
Nachdem die Stauchung nun weitestgehend unsichtbar ist, spendierte ich dem Rahmen noch neue Original-Decals, die ich von meinem Freund Axel bekommen habe, der selbst Aldo und Marco Gios gut kennt und gelegentlich auch trifft.
In den kommenden Wochen werde ich das Gios wieder mit den bestehenden Komponenten aufbauen, die zum Teil zwar etwas unsinnig mit dem Dremel getuned wurden, aber noch gut funktionieren und zur Geschichte dieses Rades gehören.
Den Steuersatz musste ich leider ersetzen, denn er wurde durch den Aufprall und die nachfolgende Nutzung leider beschädigt. Dazu kommt auch eine neue Lenker-/Vorbaukombination, auf die ich rein vorsichtshalber zurückgreife.
Auch die originalen Schlauchreifenfelgen waren leider derart verkleistert, dass ich sie einfach nicht mehr sauber bekommen habe und auch nicht noch einmal überkleben will. Den Laufradsatz werde ich deshalb mit optisch und zeitlich passenden Mavic Module E Drahtreifenfelgen komplett neu aufbauen. Die 74er Campagnolo Hochflanschnaben sind nach einem Rundumservice noch gut genug dafür.
Ist das Projekt 1974 damit schon am Ende?
Die Frage, ob das Projekt 1974 für mich damit schon zu Ende ist, kann ich mir noch nicht hundertprozentig beantworten.
Mein Gefühl sagt… eher nein. Zum einen muss das Gios erst noch erweisen, zu was es auf der Straße noch taugt. Zum anderen lässt es sich trotz vieler passender Indizien nicht wirklich zweifelsfrei auf das Jahr 1974 datieren. Die Komponenten sprechen dafür, ebenso der Vergleich mit den zahlreichen anderen Record-Modellen in der Datenbank auf www.giostorino.it zeigt viele Übereinstimmungen.
Es könnte leider auch ein 75er sein…
Die Geschichte des Vorbesitzers, dass das Rennrad in den Siebzigern noch direkt in Italien gekauft wurde, könnte ein weiteres Indiz dafür sein. Gios wurde im größeren Stil nämlich erst ab dem Jahr 1975 durch das Radsporthaus Brügelmann in Deutschland vertrieben.
Trotzdem kann man nicht ganz ausschließen, dass es ein 75er Gios ist, das mit 73er und 74er Komponenten aufgebaut wurde. Und das wird man wohl auch nie mehr endgültig klären können. Zumindest eine größere Abweichung kann ich aufgrund der Rahmendetails jedoch ausschließen.
So zeigt gleich der erste Kandidat auch die Schwächen solcher Jahrgangs-Projekte. Man muss wohl nur fest genug daran glauben.
To be continued
Wahrscheinlich erübrigen sich alle Zweifel demnächst auf den ersten gemeinsamen Runden. So angeschlagen wie das alte Gios ist, würde es recht gut zur Verfassung seines neuen Fahrers passen.