Was für ein Rennen!

Mailand – San Remo 2017.

Einer Perlenkette gleich schlängelt sich der Rest des Pelotons den sanften, lang gezogenen Anstieg zum Poggio di San Remo hinauf. Obwohl nur 160 Meter hoch, bietet er alljährlich die Kulisse für den Showdown der Classicissima, dem ersten echten Frühjahrsklassiker im Rennkalender der Radprofis.

Das Tempo ist sehr hoch und trotzdem scheint die Steigung aufgrund der Leistungsdichte im Feld wieder einmal zu sanft für eine entscheidende Selektion. Wird es also wieder zu einem Sprint des Feldes kommen, wie schon so oft in jüngeren Jahren?

 

Es spricht einiges dafür.

Gleich mehrere sprintstarke Fahrer sind noch gut positioniert im Restfeld und haben noch Helfer an ihrer Seite. Von vorne gibt seit dem Beginn der Steigung Tom Dumoulin in einer Art und Weise das Tempo vor, dass einem nicht wirklich klar wird, ob er davon springen will oder nur das Tempo hochhalten für seinen sprintstarken Kollegen Michael Matthews.

Hinter ihm die Phalanx des Team Sky um Michal Kwiatkowski, aufgereiht wie bei der Anfahrt zu einem Massensprint. Und immer unter den ersten zehn der große Favorit für den Sprint auf der Via Roma, der amtierende Weltmeister Peter Sagan.

Der größte Teil der Steigung liegt jetzt bereits hinter ihnen, das kleine Plateau vor dem letzten – mit bis zu 8% Steigung aber steilsten – Teil des Poggios ist erreicht. Tom Dumoulin nimmt endlich raus und der Zug der Sky-Fahrer scheint kurzzeitig unentschlossen, das hohe Tempo aufrecht zu erhalten.

Schon schiebt sich die Spitze des Feldes zusammen, geht sogar erstmals kurz in die Breite, dem Kopf einer Cobra gleich.

Die Attacke von Peter Sagan

Doch dann ist es der große Favorit Peter Sagan selbst, der aus dem Zentrum der Spitze kommend zunächst ganz unscheinbar im Sattel bleibend das Tempo erhöht, vielleicht fünf Meter bringt er so zwischen sich und den Rest des Feldes.

Dann erst geht er aus dem Sattel und sucht die Entscheidung dort, wo man sie von ihm am wenigsten erwartet hätte.

Mit einer sensationellen Kadenz bringt er Meter um Meter zwischen sich und das Feld, allein die beiden gerade extrem starken Fahrer Julian Alaphilippe und Michal Kwiatkowski reagieren schnell genug und versuchen fast schon verzweifelt Anschluss zu halten, was ihnen sprichwörtlich auf der letzten Rille gelingt.

Die folgenden Kilometer hinunter zum Ziel auf der Via Roma werden zu einer einzigen Demonstration des Selbstbewusstseins und der Leidenschaft von Peter Sagan, dessen beiden Mitstreiter sich erwartungsgemäß kaum mehr an der Führungsarbeit beteiligen. Mit einer beispiellosen Konsequenz zieht Sagan seinen Parforceritt bis vor die Ziellinie durch.

Der Sprint

Selbst der Sprint auf den letzten Metern scheint schon für Sagan entschieden als dieser mit seinem Antritt ein Loch von zwei bis drei Metern reißt und das trotz all der Arbeit im Wind.

Erst auf den letzten Metern kommt Michal Kwiatkowski doch noch aus dem Windschatten des im Sprint stärker eingeschätzten Franzosen Alaphilippe und ringt den erst auf den letzten 50 Metern an der Spitze leer gefahrenen Weltmeister quasi auf der Ziellinie nieder.

Was für ein Rennen.

Rückblick

Dass ich durch ein Radrennen noch einmal derart gefesselt werden könnte, das hatte ich schon nicht mehr für möglich gehalten. Irgendwann zu Beginn des Jahrtausends hatte ich im Grunde aufgehört mich für den Profiradsport zu interessieren.

Begonnen Mitte der Achtziger Jahre mit dem umstrittenen aber leidenschaftlichen Franzosen Laurent Fignon als Idol, kannte ich während der Neunziger Jahre wohl kaum einen Radprofi nicht vom Namen. Nur wenige Radrennen, die ich nicht im Fernsehen verfolgte, und wenn schon nicht, dann weil ich gerade selbst mit Rad unterwegs war, im Training oder bei einem lokalen Amateur-Radrennen.

Mein Interesse erstarb gegen Ende der Neunziger auch nicht abrupt, es erodierte mehr, Stück für Stück, Dopingmeldung für Dopingmeldung, halbherziges Geständnis hier, korrupter Radsport-Weltverband dort.

Dabei war ich wahrscheinlich nie so blauäugig gewesen zu glauben, dass es im Radsport wirklich sauber zuging, aber das war zunächst auch gar kein großes Thema.

Aber der Sumpf, in dem der Radsport Jahr für Jahr mehr versank, war selbst für einen eingefleischten Fan wie mich irgendwann zu tief. Ich fühlte mich einfach nur noch für dumm verkauft und erachtete den Profi-Radsport letztlich meiner Aufmerksamkeit nicht mehr wert.

Zurück im Jetzt

Seit zwei bis drei Jahren verfolge ich ihn wieder am Rande, nicht live vor dem Fernseher, sondern eher sporadisch und auch eher rückblickend als Leser. Gelegentlich schaue ich mir eine Aufzeichnung an, um das eintönige Wintertraining auf der Rolle oder dem Laufband zu verkürzen. Bevorzugt suche ich mir dabei die klassischen Eintagesrennen aus, in denen man die Essenz des Radsports so viel besser erkennt als beim großen Medien-Spektakel Tour-de-France mit einem Helden für vier Wochen im Jahr.

Dieser Peter Sagan kann begeistern

Die Art und Weise, mit der der Slowene Peter Sagan seit ein paar Jahren den Radsport belebt, war mir auch vor der diesjährigen Classicissima schon aufgefallen. Mit der spürbaren Leidenschaft, mit der er am vergangenen Samstag dann Zweiter geworden ist, hat er mich derart erreicht, dass ich jetzt schon davon schreibe.

Auf dem Rollentrainer hatte ich mir die letzten 30 Minuten der englischen Eurosportübertragung auf Youtube angesehen, erst Stunden nach dem eigentlichen Rennen.

Als es in die Abfahrt vom Poggio ging, zeigte auch mein Pulsmesser für kurze Zeit unglaubliche 180 Schläge, einen Wert, den ich sonst kaum mehr sehe, und auch gar nicht mehr sehen möchte. Maximal 120 Schläge resultierten dabei aus der momentanen Trainingsbelastung, die restlichen 60 waren allein der Begeisterung und Spannung dieses furiosen Finales geschuldet. Ich bin ein sog. Herz-Magen-Typ, aber das war selbst für mich ungewöhnlich.

Peter Sagan hat mir, dem Freizeit-Radfahrer und kritischen Zuschauer, mit seiner Fahrweise für dreißig Minuten echte Freude bereitet. Das war Radrennsport wie aus dem Bilderbuch. Radsport wie er mich vor vielen Jahren gepackt, zum leidenschaftlichen Fan und auch selbst zum Rennfahrer gemacht hatte.

Danke dafür!

Was hat sich geändert?

Bin ich jetzt endlich wieder naiv genug für den Radsport? Oder anders gefragt: Was ist seinerzeit in den Neunzigern eigentlich passiert, dass der Radsport zwischenzeitlich so viel von seiner Faszination für mich verloren hatte?

Gedopt wurde doch auch vorher schon. Und apropos Doping, warum habe ich mich am Samstag nach dem Rennen nicht gleich wieder gefragt, ob Sagan gedopt sein könnte und deswegen so toll fuhr?

Es spielt einfach keine Rolle. Mich hat nämlich weniger Sagans Stärke fasziniert, als seine Fahrweise.

Die Attacke an der Stelle, an der die Nicht-Sprinter hätten attackieren sollen, das konsequente Durchziehen ohne sich zu sehr um die beiden Mitausreißer zu kümmern, seine Haltung auf dem Rad und vielleicht am überzeugendsten – wie er verloren hat.

Dass er Zweiter geworden ist, hat der fabelhaften Vorstellung in meinen Augen sogar die Krone aufgesetzt. Denn Sagan hat – zumindest nach außen hin – einfach akzeptiert, dass es trotz seiner Stärke nicht ganz zum Sieg gereicht hat. Schon im Austrudeln nach der Linie reichte er Kwiatkowski die Hand zur Gratulation. Ich habe ihn nicht einmal schimpfen sehen, genauso wenig wie auf den letzten Kilometern seiner einsamen Führungsarbeit. Das hat mir richtig gut gefallen.

Dieser Mann strahlt Leidenschaft aus, statt kühler Professionalität, wie sie viel zu lange schon den Radsport dominiert.

Die große Welle der Professionalisierung in den Neunzigern

Ich führe es tatsächlich auf die zunehmende Professionalisierung Anfang der Neunziger Jahre zurück, dass ein großer Teil der Leidenschaft, die den Radsport stets beseelte, für lange Zeit auf der Strecke geblieben ist. Und nicht nur das. Ich glaube auch, dass eben jene Professionalisierung auch das Doping erst auf eine neue Ebene hob, von gelegentlich notwendig erachteten Aufputschmitteln hin zur systematischen, medizinischen und pharmazeutischen Leistungssteigerung.

Den Beginn dieser Ära mache ich zeitlich – ohne Beurteilung seiner Persönlichkeit – am dreifachen Tour de France Sieger Greg Lemond fest. Er war es, der erstmals seine ganze Saisonplanung auf ein Event – die Tour-de-France – hin ausrichtete und – ganz Amerikaner – auch in der Vermarktung seiner Person neue Maßstäbe im Radsport setzte.

Dass auch das künstlich aufgebauschte Projekt der Tour-de-Trump in diese Zeit fällt, sei der momentanen Popularität des Namensgebers wegen zumindest erwähnt.

Ob sich die Professionalisierung schon zu dieser Zeit auch auf die medizinische Betreuung ausweitete, mag ich nicht zu beurteilen und möchte das auch gar nicht unterstellen. Dass die Herangehensweise an den Sport sich durch Lemond änderte, das erscheint mir offensichtlich. Mit ihm begann eine neue Ära, ich möchte fast sagen die “Amerikanisierung” des Profi-Radsports, die später in den sieben penibel geplanten und systematisch umgesetzten Tour-de-France Siegen eines Lance Armstrong ihren unrühmlichen Gipfel fand.

Da mutet es fast schon ein wenig tragisch an, dass sich ausgerechnet Greg Lemond frühzeitig zu den hartnäckigsten Kritikern von Lance Armstrong entwickelte. Gerade so als hätte er die Geister, die er rief, auch selbst wieder stoppen wollen.

Doch wo steht der Radsport heute?

Hat sich der professionelle Radsport von der Ära Armstrong nun wirklich erholt?

Ich weiß es nicht. Aber ich werde zukünftig wohl wieder etwas genauer hinsehen, das hat Peter Sagan mit seiner Fahrweise durchaus erreicht.

Natürlich könnte auch die Leidenschaft eines Peter Sagan nur Ausdruck einer noch professionelleren Herangehensweise – im Sinne von “der Zuschauer muss Spaß haben“ – sein. Ich hoffe es nicht.

Und Professionalität muss auch nichts Schlechtes sein. Vielleicht hat es den schwierigen Prozess der beiden vergangenen Jahrzehnte einfach gebraucht, um den Radsport nachhaltig in die Neuzeit zu bringen.

Wie dem auch sei. Die diesjährige Classicissima Milano – San Remo hat mir mal wieder Spaß gemacht und motiviert mich, dem Profi-Radsport eine neue Chance zu geben. Ich freue mich darauf.

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