On gravel durchs Weinviertel – IVV 2018

In Velo Veritas – Retz (NiederÖsterreich) – 10. Juni 2018.

Bitte kein Defekt! Nicht jetzt, nicht in diesem Wald, der einfach nicht enden will. Der schmale Schotter-Weg schlängelt sich wunderbar entlang eines Bergrückens durch den fast mediteran anmutenden Wald. Meine Beine sind gut und trotzdem – ich will hier endlich raus.

 

Es ist unglaublich, was so ein Rennradreifen aushält, wenn man es nicht immer wieder selbst erfährt. Nein, ich sollte es nicht verschreien.

Schon fast 10 Kilometer geht es auf einer ruppigen Schotterpiste durch diesen seltsam schönen Wald. Nicht das erste Teilstück, das Material und Fahrer viel abverlangt, aber sicher das längste – zumindest gefühlt.

Auf Naturstraßen durch den Wald

Einer der beiden Mitstreiter aus Wien, die ich in der letzten Labe kennenlernen durfte, fährt gut 20 Meter vor mir – ein weiterer ein Stück weiter hinter mir. Sicherheitsabstand ist gerade wichtiger als Windschatten, so unvermittelt kommt manches ausgewaschene Schlagloch im Wechselspiel des Waldschattens, dass man kaum noch ausweichen kann.

Außerdem fahre ich so wenigstens nicht direkt im Bremsenschwarm, der meinem vorausfahrenden Mitstreiter gierig folgt, Dank des Tempos und der steten Bewegung jedoch nie zu einer Mahlzeit kommen wird. Umdrehen will ich mich nicht, ich würde nur die eigenen Verfolger sehen.

Nein, hier will ich beim besten Willen nicht anhalten müssen, um einen Schlauch zu wechseln oder einen Defekt zu beheben. Wenn ich doch bloß die 28er Reifen aufgezogen hätte.

Aber das 37 Jahre alte Centurion Professional und seine nur auf dem Papier 25mm breiten Veloflex-Reifen werden auch so durchhalten.

Schwülheiß und gewittrig

Noch vor vielleicht 90 Minuten hatte ich mich nach dem Schatten des Waldes gesehnt, bei gut 30 Grad in der prallen Sonne, in einem nicht enden wollenden Anstieg auf hellem, losem Schotter, der mich sofort an die Eroica in Gaiole erinnerte. Steil, rutschig und staubig. Und heute auch noch heiß.

In der Toscana war es im Oktober zwar nicht annähernd so warm, dafür waren die Anstiege steiler, zahlreicher und auch technisch noch anspruchsvoller.

Der Wald wird lichter. Der Weg geht jetzt entlang eines Bergkammes, jedenfalls sieht man auf beiden Seiten immer wieder mal ins Tal.

Und das, was sich auf der linken Seite bleigrau zusammenbraut, beginnt mir zusätzlich Sorgen zu machen. Eine Dusche wäre schön, aber kein handfestes Gewitter. Nicht an dieser Stelle, wo auch immer sie geografisch liegen mag.

Retz am Vorabend: schwülwarm und gewittrig.
Irgendwo im schönen Weinviertel

Ich fühle mich orientierungslos, was selten vorkommt. Kein Wunder, nach gut 10 Kilometern über schmale und zum Teil verwinkelte Waldwege. Ich weiß wirklich nicht so genau, wo wir gerade sind und wie weit es noch zur nächsten Kontrollstelle ist.

Diese schöne Region ist mir völlig fremd, nie war ich ihr näher als im gut 80 Kilometer entfernten Wien.

Seit heute morgen fahre ich entweder den Fahrern vor mir nach oder den auf den Boden gemalten Pfeilen und Markierungen. Die Sonne steht mittlerweile  mehr oder weniger senkrecht am Himmel, was selbst die grobe Orientierung erschwert.

Unterwegs in den Weinbergen: Auf verkehrsarmen Wegen durch das österreichische Weinviertel.
Klassische Radrundfahrt im Waldviertel

Die In Velo Veritas ist eine Radtourenfahrt, die ähnlich der Eroica in der Toscana, mehrheitlich auf klassischen Rennrädern der Siebziger und Achtziger Jahre gefahren wird, manche sind noch deutlich älter.

Sie findet an wechselnden Standorten im Weinviertel in Niederösterreich statt und der Start- und Zielort ist in diesem Jahr zum zweiten Mal die kleine, reizvolle Stadt Retz. Das Städtchen scheint mit seinen netten, kleinen Häusern, den klassisch beschrifteten Straßenschildern und der Lage am ehemaligen eisernen Vorhang, ein wenig aus der Zeit gefallen. Genau wie die Liebhaber der historischen Rennräder, die sich an diesem Wocheende zahlreich in dem kleinen Ort versammeln und sowohl Ausfahrten auf schönen Rennrädern als auch dem Genuss frönen.

Es ist sicher kein Zufall, dass die In Velo Veritas mit der Weinwoche in Retz zusammenfällt.

Entspannt und bestens organisiert

Im Vergleich zur Eroica geht es bei In Velo Veritas beschaulich zu. Am Vortag einen Stellplatz für den Campingbus finden – kein Problem. In der Turnhalle beim Duschen – viel Platz. Verkehr bei der Abreise nach der Veranstaltung – kein Thema. Und auch für das leibliche Wohl ist jederzeit schnell und unkompliziert gesorgt.

Und trotzdem ist es nicht so, dass bei In Velo Veritas nichts los wäre. Der Marktplatz von Retz, als Zentrum der Veranstaltung, ist immer gut besucht, und schon beim gemütlichen Warmradeln am Vortag waren sicher hundert Fahrer mit Freude dabei.

Kurzer Stop beim gemeinsamen Warmradeln am Vortag – jeder soll mitkommen.

Die über drei verschiedene Distanzen (70, 140 oder 210 km) ausgetragene Veranstaltung erfreut sich in allen drei Starterfeldern zahlreicher Teilnehmer – aufgeschnappt habe ich die Zahl 700. Es können auch mehr gewesen sein.

Die Veranstaltung ist erstklassig organisiert, die Verpflegung an den Laben hervorragend und auch das Teilnehmerfeld irgendwie erlesen – erkennbar bemüht den besonderen Charakter einer Klassikerausfahrt mitzutragen. Auch unterwegs habe ich nie das Gefühl, dass die anspruchsvolle Strecke irgendjemanden überfordert. Hier scheint jeder zu wissen, was er sich zumuten darf. Das war bei der Eroica im vergangenen Jahr nicht immer so.

Mitbringsel am Pedalriemen – man kommt der Vegetation oft nahe.
Mit eigenem Charakter

Auch wenn L’Eroica wohl als Vorbild der In Velo Veritas gedient hat, man hat nur sehr selten den Eindruck, dass hier etwas anderes kopiert wurde als die Idee. Einzig ein paar Feldwegabschnitte auf tschechischer Seite wirken auf mich etwas zu bemüht. Insgesamt ist die Streckenauswahl sehr gelungen.

Die In Velo Veritas hat einen ganz eigenen Charakter, der aus meiner Sicht auch daher rührt, dass sie trotz zahlreicher, weit angereister Teilnehmer, einen sehr starken regionalen Charakter hat.

Wiener wohin man schaut. Im Idealfall auf Rädern von Puch, die hier – im Gegensatz zu meinem bisherigen Erleben – klar die Mehrheit stellen.

Die Wiener Radklassiker-Szene und die In Velo Veritas scheinen sich gegenseitig zu befruchten. Aber das ist natürlich nur die Beobachtung eines Außenstehenden aus dem Nachbarland.

Nach 142 Kilomtern durchs Weinviertel

Endlich lichtet sich der Wald. Die bleigrauen Wolken werden umgehend blasser und mein Vertrauen in die schmalen Reifen sowie mein Centurion wieder unverwüstlich.

In den üppigen Laben ist Schatten gefragt – hier in Michelstetten.

Gleich der erste Ort nach dem Wald beherbergt die zwischenzeitlich stark ersehnte Labe. Während statt des gefürchteten Gewitters lediglich ein paar Regentropfen fallen, lasse ich mir eine Gemüsesuppe schmecken und führe nette Gespräche. Dermaßen gestärkt vergehen die verbleibenden Kilometer wie im Flug.

Im Ziel auf dem Marktplatz in Retz geht meinem Vorderreifen dann doch noch die Luft aus. Auf den Glassplitter eines am Vorabend zu Bruch gegangenen Wein- oder Bierglases waren weder Fahrer noch Reifen so spät noch gefasst. Das nenne ich den passenden Zeitpunkt.

Der Marktplatz in Retz: Start, Ziel und Mittelpunkt der Veranstaltung.

Der Schlauchwechsel auf dem sonnigen Retzer Marktplatz, ein kühles Bier in Griffweite, ein bisschen beseelt von der eigenen Leistung, geht jedenfalls viel entspannter von der Hand, als es im „unendlichen Wald“ wohl der Fall gewesen wäre. Ich bin gerade ehrlich dankbar.

Der Schreiberling mit seinem Rennrad – einem Centurion Professional aus dem Jahre 1981.

In Velo Veritas – Du hast mich mit gefordert! Mit ruppigen Naturwegen, zahlreichen Höhenmetern und schwüler Hitze. Aber Du hast mich reich entlohnt, mit einer tollen Verpflegung, netten Mitstreitern und einer beeindruckenden Landschaft. Wir sehen uns hoffentlich wieder. Das nächste Jahr in Poysdorf!

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